Ivana Sajko: „Familienroman“, Übersetzung: Alida Bremer

Alida Bremer über die Fußnoten innerhalb des „Familienromans“

Mit Familienroman. Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus (OT: Povijest moje obitelji od 1941. do 1991, i nakon) hat Ivana Sajko einen Familienroman geschrieben, der zugleich eine komprimierte Geschichte Kroatiens ist, vor allem die der Hauptstadt Zagreb in der Zeitspanne zwischen zwei Kriegen. Diese beiden Kriege haben das Land und all seine Bewohner nachhaltig beeinflusst; auch wenn die Ereignisse zunächst lokal anmuten, ist die Geschichte dieses kleinen Landes in seiner komplexen europäischen Randlage ein Spiegelbild der Geschichte des gesamten Kontinents.

Cover Sajko, Familienroman

Kommunisten und Faschisten, Freiheitskämpfer und Besatzer, Idealisten und Realisten, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder – alle drehen sich hier im Strudel der historischen Geschehnisse wie in einem Kaleidoskop. Ausdrucksstarke Bilder oder manchmal nur Skizzen blitzen auf, deuten mehr an, als gesagt wird – viel mehr. Die Autorin arbeitet mit Pausen, mit Leerstellen zwischen den Absätzen, mit Schweigen, damit man das Lesen dieses dichten Textes verlangsamen kann, um das Gelesene in Ruhe auf sich wirken lassen zu können. Es ist eine herausragende Eigenschaft ihres Schreibens, dass sie dank ihrer verdichtenden, komprimierenden Schreibtechnik mit wenigen Worten so viel sagen kann. Dazwischen montiert sie Zitate, die ich für diese deutsche Veröffentlichung neu übersetzen oder anpassen musste.

In diesem Roman wird die Sprache der historischen Fakten mit der Sprachlosigkeit einer Familie verwoben, das Dokumentarische mit dem Intimen und dem Privaten. Für die Übersetzung suchte ich nach dem passenden Ton: Wie ergänzen sich die beiden Sprachstile? Wie soll ich das Diskursive mit dem Emotionalen vereinigen? Wie soll ich sachliche Berichte über konkrete historische Ereignisse und Zitate aus den Werken oder Reden realer Persönlichkeiten sowie diverse andere Exkurse ins Faktische sprachlich von dem ganz persönlichen Erleben der Familienmitglieder trennen und sie gleichzeitig ineinander spiegeln lassen? Außerdem verwendet die Autorin zwei Literaturwerke, einen Einakter von Čechov (Der Heiratsantrag) und das Poem Das Massengrab des kroatischen Dichters Ivan Goran Kovačić, die beide von anderen Übersetzern ins Deutsche übertragen wurden – auch diese Textstellen sollten sich in den gesamten Ton des Romans einfügen. Es war auch wichtig für mich zu verstehen, wie die Autorin diese Texte liest: Čechovs komisches Theaterstück verwendet sie, um selbst eine Situationskomik zu entwickeln, und zwar beim Schauspiel „im Wald“, in dem die Partisanenkämpfer sich versteckt hielten und gemäß der kommunistischen Doktrin über die Notwendigkeit der Kultur auch das Amateurtheater pflegten. Hier ist auf einigen Fotos zu sehen, wie die SchauspielerInnen des „Theaters der Volksbefreiung“ ausgesehen haben.

Und das Poem Das Massengrab, diesen zentralen Text der kroatischen Literatur über das Leiden der Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg, verwendet sie als Folie, auf der sich zwei dramatische, miteinander verbundene Prozesse abspielen: die Geschichte des Landes und das Familiendrama.

Den integralen Text des Poems von Kovačić, der im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, kann man hier in der Nachdichtung von Zlatko Gorjan lesen.

Seite 7

Die erste ist die Geschichte meiner Familie, meiner Urgroßmütter, meiner Großmütter, meiner Großväter, meiner Mutter und meines Vaters, ihrer Einschusslöcher, der Glocken in ihren Köpfen und der Mäuse unter dem Bett. Sie blicken in die Zukunft, ohne jede Überraschung, wie Klees Angelus Novus. Sie starren mit aufgerissenen Augen vor sich hin und schreien lautlos in ihren kleinen Küchen. Dieses Buch ist die Reaktion auf ihre Stille.

Direkt am Anfang steht diese doppelte Anrufung: Wie zwei Musen werden Walter Benjamin und Paul Klee beschworen, allerdings wird der erste von der Autorin nicht namentlich genannt, nur der zweite, der das Bild, das einst Benjamin gehörte, gemalt hat – Angelus Novus. Anders als bei Benjamin starrt der Neue Engel bei Ivana Sajko in die Zukunft. Aber das Gefühl, welches dieser Engel im Betrachter hervorruft, bleibt ähnlich.

Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.

Aus: Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX ( Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, herausgegeben von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser (werkausgabe edition suhrkamp), Frankfurt a. M. 1980, Band I.2: Abhandlungen, S. 697 f.)

Seite 23

Es gibt auch Fotos. Auf einem davon bleibt eine deutsche Panzereinheit vor dem Laden Josip Hertmann und Sohn stehen. Die versammelten Zagreber glotzen erstaunt auf den Stahl. Es sind misstrauische Frauengesichter in der zweiten und verwirrte Männergesichter in der ersten Reihe zu sehen. Sie haben ihre Hüte tief ins Gesicht gezogen und die Fäuste in die Taschen ihrer Ballonmäntel geschoben. Sie tun nichts. Sie wundern sich nur.

Die Autorin bediente sich verschiedener Dokumente, Bilder und Videos, sie las einschlägige Geschichtsbücher (die sie im Roman in Fußnoten nennt) und führte Gespräche mit ZeitzeugInnen, die nicht nur aus ihrer eigenen Familie stammten. Eben diese Lektüren, die Erforschung der Geschichte Zagrebs und Kroatiens sowie die Gespräche spiegeln sich im Stil des Romans wider. Sajkos Sprache wirkt prägnant, verdichtet, bisweilen streng sachlich, dann wieder ironisch verspielt. Auch wenn sie eine Meisterin darin ist, mit wenigen Worten eine Szene hervorzuzaubern, halfen mir manchmal die Fotos aus dem Internet, um noch intensiver das Beschriebene vor Augen geführt zu bekommen. In diesem Zeitungsartikel über den Einmarsch der 14. Panzerdivision der Wehrmacht in Zagreb habe ich ein Foto gefunden, das zum oben aufgeführten Zitat passt. Weitere Fotos, die ebenfalls die 14. Panzerdivision bei ihrem Eintritt in die Stadt zeigen, sind hier zu finden.

Seite 31

Doch zehn Tage später ließ Hitler die Hauptstadt bombardieren, der junge König türmte, das Königreich kapitulierte, Zagreb füllte sich mit Panzern, Kroatien wurde okkupiert … nein, nein, nein! Kroatien wurde NICHT okkupiert, sondern befreit!

Es gibt einige Foto- und Videodokumente über die ersten Tage der deutschen Okkupation. Ich kam nicht umhin mich zu fragen: Was haben sich eigentlich diese adretten deutschen Soldaten dabei gedacht, als sie so gelassen in die Kamera ihres Kameraden lächelten oder ihm zuwinkten? Sie scheinen sich in Zagreb wohlzufühlen, die Passanten wirken auch gelassen und sehen gepflegt aus:

Dabei ist jene Zeit eine Zeit der Schreckensherrschaft der Ustascha und ihres Führers Ante Pavelić, dessen Reden seltsam peinlich anmuten, wie zum Beispiel jene, in der er die Frage stellt, „wer also das stärkste Volk“ sei:

Seite 34

Als das Skandieren abflaut, setzt der Führer seine Erläuterungen darüber fort, dass die Kroaten seit jeher versklavt waren, Mächten und Gewalten unterworfen, die beabsichtigten, das ganze Volk auszulöschen. Aber dann sei der neue Weltkrieg gekommen. Zu unserem Glück, so betont der Führer, da Europa nicht auf der Basis papierener Friedensverträge bestehen könne, sondern nur aufgrund der lebendigen Bedürfnisse und Kräfteverhältnisse, die zwischen den einzelnen Völkern herrschten, und es müsse geprüft werden, welches unter ihnen das stärkere sei. Dieselbe Frage stellt er auch dem Publikum:
– Wer ist also das stärkste Volk?

Doch das Publikum schweigt. Es ist eine rhetorische Frage.

Die Rede Pavelićs, die Ivana Sajko zitiert, kann man in dieser Dokumentaraufnahme hören und sehen. Neben dieser Aufnahme hat Sajko schriftliche Dokumente verwendet, in denen der Wortlaut der Rede notiert ist. Die Autorin gibt getreu auch die Reaktionen des Publikums wieder. Diese gesamte Szenerie wirkt auf mich wie eine armselige provinzielle Kopie ähnlicher Versammlungen, die im Dritten Reich mit Hitler in der Hauptrolle abgehalten wurden.

Seite 39f.

Man hat den Genossen Rade Končar verhaftet. Das italienische faschistische Militärgericht hat ihn zum Tode verurteilt. Es wird betont, dass seine Haltung heldenhaft war und dass er es abgelehnt hat, eine Begnadigung zu erbitten. Er wurde am 22. Mai 1942 in der Nähe von Šibenik erschossen. Seine Mitkämpfer werden ihn im Jahr 1943 posthum zum Nationalhelden erklären, die Fabrik, in der er einst gearbeitet hat, wird 1946 nach ihm benannt, und 1952 wird eine Statue nach seinem Abbild auf dem Werksgelände aufgestellt, 1973 wird sie auf einen hohen Steinsockel vor dem neuen Werksverwaltungsgebäude versetzt, wo sie bis 1993 stehen wird, dann wird die Statue vom Sockel genommen und im Hinterhof der Fabrik gelagert, da es zu einem kriegerischen Konflikt zwischen Kroaten und Serben im Kroatienkrieg gekommen ist und Rade Končar serbischer Herkunft war, im Jahr 1997 wird schließlich aus dem Steinsockel ein Denkmal für jene Arbeiter geschaffen, die im Heimatkrieg gefallen sind, und im Jahr 2000 wird aus dem Namen der Fabrik der Vorname »Rade« entfernt, da er allzu serbisch klingt.

Das Land ist tief gespalten, die Bevölkerung teilt sich in Ustasche, Partisanen und die schweigende, abwartende Mehrheit.

Die Gestalt des Widerstandskämpfers Rade Končar, der 1943 von italienischen Faschisten verhaftet, verurteilt und erschossen wurde, und der Umgang mit der Erinnerung an seine Person, illustriert nicht nur die Brüche in den ideologischen Konstruktionen verschiedener Epochen, sondern auch den Aufstieg und den Zerfall Jugoslawiens und folglich auch der Industrie, die mit dem jugoslawischen Sozialismus verbunden war, da eine der größten Fabriken Kroatiens und Jugoslawiens seinen Namen trug.

Seite 86

– Sie sind alle gleich.

So kommentiert es Kaja. Sie erzählt mir, dass sie mit den Arbeitern aus ihrer Schicht zum feierlichen Empfang gegangen sei. Sie hielten sich an den Händen und sangen. Die Partisanenkolonnen kamen über die Save-Brücke, und von dort wurde der Marsch zum zentralen Marktplatz fortgesetzt. Sie beschreibt mir die mit Blumen geschmückten Fenster und die Laternen. Die Gärten waren bis zur letzten Blüte leer gepflückt. Blumen schmückten auch Autos, Lastwagen und sogar Pferde. Ich frage sie, ob sie sich über das Kommen der Partisanenarmee gefreut habe.

Die Antifaschisten haben gesiegt. Die Stadt, die gesehen hatte, wie die Deutschen in die Stadt kommen, sieht jetzt die Sieger des Kriegs in die Stadt einmarschieren – die Partisanen:

Es sind neue Zeiten, und in ihnen gibt es auch eine neue Ästhetik:

Seite 107f.

Sie hat diesen Film schon einmal gesehen. Die Handlung spielt sich in Dalmatien ab. Slavica und Marin versuchen mit einer Gruppe Gleichgesinnter, ein neu gebautes Fischerboot zu den Partisanen zu bringen, um sich so dem Aufstand anzuschließen. Doch schon beim ersten Versuch fallen sie dem Feind in die Hände. Nachdem die Partisanen sie befreien, können sie sich endlich dem Kampf anschließen. Bei der Verteilung der Waffen bekommt Slavica eine Pistole. In der Absicht, sie vor der Gefahr zu schützen, meint ihre Mutter, dass Frauen nicht in die vorderste Kampflinie gehören. Der Kommandant antwortet ihr:

– Sie hat Hände und einen Kopf, sie hat das Recht, sich zu verteidigen.
In einem der Einsätze kommt Slavica unter Deck ums Leben. Der Tod der Protagonistin wird von hinten gefilmt. Ihr Gesicht ist nicht zu sehen.

Zu der neuen Ästhetik gehörten auch einige der Plastiken, die dem Befreiungskampf gewidmet waren. In einer Szene wird die kindliche Respektlosigkeit beschrieben, die bereits den Keim der künftigen Niederlage des kommunistischen Regimes in sich trägt.

Seite 100f.

Strijeljanje talaca (Das Erschießen der Geiseln) von Frano Kršinić ist ein typisches Beispiel für eine monumentale Skulptur zum Thema Volksbefreiungskampf. Nach der Kranzniederlegung und der Schweigeminute weiht die Lehrerin die Klasse in die symbolische Bedeutung der künstlerischen Darstellung ein. Im Zentrum des Denkmals versucht eine Gestalt von titanischen Proportionen, die dicken Seile, mit denen ihre Handgelenke gefesselt sind, zu zerreißen. Mit ihr verbunden ist eine athletisch gebaute Heldin, die der Allegorie der Freiheit von Delacroix ähnelt. Das Kleid ist entlang ihrer Oberschenkel zerrissen, es ist über eine ihrer Brüste gerutscht und legt diese frei. Ihr Gesicht klafft wie ein Loch. Das ist ein Schrei. Ringsum dieses Paar fallen gerade fünf gigantische Figuren unter dem feindlichen Beschuss. Doch wenn einer fällt, steht der Nächste schon wieder auf, nimmt sich die Stiefel und das Gewehr von dem Gefallenen und geht weiter. Denn genau das ist der Weg, auf dem der Sieg voranschreitet. Zwei Schritte nach vorn und einer zurück. Er bewegt sich langsam und mühsam wie ein Chamäleon. Doch jeder neue Schritt wird länger, und der Stiefel, der ihn geht, wird immer schwerer. Das ist die Botschaft, erklärt die Lehrerin, während hinter ihrem Rücken eine Gruppe von mutigeren Schülern versucht, die herausschauende Brust der Heldin von Kršinić zu berühren. Sie sind auf das Denkmal geklettert, indem sie sich zunächst auf den halb liegenden Körper des sterbenden Partisanen ganz rechts gestellt haben, dann sind sie auf die Schulter der Bäuerin geklettert, die ihn stützt, um dann von ihrem Kopf auf die gefesselten Handgelenke der zentralen Gestalt zu rutschen, von wo aus sie die ganze Klasse unterhalten können. Das Lachen der Mädchen bringt sie dazu nachzuschauen, was sich hinter ihrem Rücken abspielt.

Seite 117

[…] und nach der Gründung des Stadtparlamentes in der Nachkriegszeit wurde auch offiziell die Entscheidung getroffen, die Stadt auf das südliche Ufer des Flusses auszudehnen, und diese Aufgabe wurde zur städtebaulichen Priorität erklärt und zum anspruchsvollsten Prüfstein des Fortschritts. Auf all jenen ausgehobenen Fundamenten werden bald die Vertikalen der neuen Hochhäuser emporstreben, die Baukräne werden weiterziehen zu den schlammigen Wiesen am Horizont, sie wird sie gut sehen können, da sie auch weiterhin an demselben Fenster stehen wird, und dann wird sie sich wieder hinsetzen.

Der große Stolz der sozialistischen Gesellschaft stellte der Ausbau einer modernen Stadt dar. Dass genau das zur Katastrophe und zur Flut, sieben Jahre nachdem dieser dokumentarische Propagandafilm über Zagreb im Jahr 1957 aufgenommen wurde, führen wird, wollte niemand gewusst haben, obwohl die Menschen der vergangenen Jahrhunderte immer weit entfernt vom Ufer der Save siedelten, doch diese alte Weisheit wurde vermutlich als überholt betrachtet:

Seite 144

Die Save hatte ein Gebiet überflutet, dass vierzehn Kilometer lang und vier Kilometer breit war. Ein Drittel der Stadt Zagreb stand unter Wasser, ungefähr fünfzehntausend Wohngebäude, davon zehntausend vollständig unbewohnbar, mehr als vierzigtausend Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen, ungefähr einhundertzwanzig Firmengebäude wurden schwer beschädigt, ungefähr dreihundertfünfzig Straßenkilometer wurden überflutet … und so weiter. All das meldete man in den Nachrichten. Auch die Namen der Toten wurden verlesen. Und man betonte, dass die genauen Todesursachen erst nach den Obduktionen bekannt sein würden. All das hörte sie, aber sie konnte es auch durchs Fenster sehen. Die stillen Tode der Nichtschwimmer. Die Dächer im Schlamm. Und die Äpfel.

Hier sind einige Bilder der Überflutung zu sehen. Auch dieses Video zeigt die von der Autorin gezeichneten schweren Folgen.

Aber nicht nur die Naturkatastrophen setzten der neuen Gesellschaft zu. Auch andere Kräfte versuchten Jugoslawien zu zerstören. Im Fall des kroatischen Dissidententums vermischten sich der Wunsch nach mehr Demokratie und der Wunsch nach der nationalen Befreiung und Selbständigkeit. Leider neigten die kroatischen Emigranten zu radikalen Ideologien und zu radikalen Taten, so wurde aus dem Wunsch nach mehr Demokratie ein glühender Antikommunismus und aus dem Wunsch nach der nationalen Selbständigkeit ein erbitterter antijugoslawischer Nationalismus. Und aus dem Einsatz für mehr Freiheit entstand der Terrorismus.

Seite 160

In den Nachrichten wurde gemeldet, dass eine Gruppe kroatischer Emigranten ein Passagierflugzeug der Linie Chicago–New York entführt habe. Es gelang ihnen, durch Erpressung das Flugzeug nach Europa umzuleiten – sie hatten Sprengsätze am New Yorker Hauptbahnhof deponiert –, und sie planten antijugoslawische Flugblätter abzuwerfen.

Hier ein Foto der Flugzeugentführer.

Seite 130

Im Jahr 1990, beim 14. Außerordentlichen Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, werden die Delegierten der Sozialistischen Republik Slowenien aufgrund von Meinungsverschiedenheiten bezüglich des Vorschlags, ein Mehrparteiensystem zu etablieren und die Beziehungen zwischen den föderalen Einheiten im Einklang mit der Verfassung von 1974 zu restrukturieren, die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien verlassen. Die Delegation der Sozialistischen Republik Kroatien wird sich ihnen anschließen. Und dann die Delegation der Sozialistischen Republik Mazedonien. Und dann die Delegation der Sozialistischen Republik Bosnien und Herzegowina. Es wird eine fünfzehnminütige Pause verkündet, die niemals enden wird.

Einfacher hat noch nie jemand den Zerfall Jugoslawiens beschrieben:

Es wird eine fünfzehnminütige Pause verkündet, die niemals enden wird.

Ich teile die Meinung von Ivana Sajko: Der Beginn des Zerfalls ist unbedingt im Scheitern des 14. Außerordentlichen Kongresses des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens zu sehen. In diesen kurzen Dokumentarfilmen kann man die Atmosphäre spüren, die zum Ende der sozialistischen Gesellschaftsordnung und dann zum blutigen Krieg geführt hat.


Hörprobe: Nora Gomringer liest einen Auszug aus Familienroman.

Alida Bremer

Alida Bremer wurde 1959 in Split/Kroatien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster. Für Voland & Quist übersetzte sie Bücher von Edo Popović, Roman Simić und Ivana Sajko. Für Liebesroman wurde sie als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis 2018 des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Familienroman entstand mit Unterstützung durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union.